In den ersten neun Monaten dieses Jahres bekamen es die Staatsanwaltschaften mit 3 neuen Verfahren wegen vorsätzlicher Tötungsdelikte durch Polizeibedienstete zu tun und mit 155 neuen Verfahren wegen Gewalt, wie das Innenministerium in München mitteilte. Im Jahr 2017 lag die Zahl der Neuzugänge insgesamt bei 222, ein Jahr zuvor bei 292. «Jede persönlich oder schriftlich vorgebrachte Beschwerde oder Anzeige wird ernst genommen und sorgfältig geprüft», betonte ein Sprecher. Doch die Ermittlungen gegen Polizisten werden in der Regel eingestellt.
So haben die bayerischen Staatsanwaltschaften von Januar bis September dieses Jahres rund 160 der Ermittlungsverfahren – darunter auch ältere Fälle – erledigt. Nur in jeweils einem Fall gab es den Angaben nach eine Anklage beziehungsweise einen Antrag auf Erlass eines Strafbefehls. Die Zahlen aus den Vorjahren sehen ähnlich aus. Über Urteile gegen Polizisten lässt sich hingegen nichts sagen, weil die Strafverfolgungsstatistik das nicht so detailliert erfasst.
In vielen Fällen erhärte sich der Verdacht nicht oder stelle sich als unbegründet heraus, erklärte das Ministerium zu den eingestellten Verfahren: «Gründe hierfür können beispielsweise sein, dass ein Schusswaffengebrauch oder andere polizeiliche Maßnahmen, bei denen eine Person zu Schaden gekommen ist, durch das Polizeirecht gedeckt oder wegen Notwehr oder Nothilfe gerechtfertigt waren.»
Zudem gibt es sogenannte Gegenanzeigen: Wenn jemand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte – also etwa gegen Polizisten – beschuldigt wird, reagiert er manchmal mit einer Anzeige wegen Körperverletzung gegen den jeweiligen Beamten. «Gerade solche Anzeigen stellen sich oft aber als nicht stichhaltig heraus», erklärte der Sprecher weiter. Zur Einordnung: Im vergangenen Jahr gab es 7334 Fälle von Gewalt gegen Polizeibeamte in Bayern mit 6106 Tatverdächtigen.
Wie oft es im Freistaat zu rechtswidriger Polizeigewalt kommt, ist aus Sicht von Professor Tobias Singelnstein vom Lehrstuhl für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum aber nicht bekannt. «Das liegt unter anderem daran, dass nicht jeder Fall zur Anzeige gebracht wird», sagte der Experte. Dass die meisten Verfahren gegen Polizisten eingestellt werden, liegt nach seiner Einschätzung auch daran, dass die Beweislage häufig schwierig sei. Bundesweit liege die Anklage-Quote in solchen Fällen bei weniger als drei Prozent.
Vergangene Woche war ein Verfahren vor dem Oberlandesgericht München um Schmerzensgeld nach einem Polizeieinsatz mit einem Vergleich geendet. Ein Fußball-Fan war im März 2013 mit einem Polizisten aneinandergeraten und dabei verletzt worden.
Gesetzlich ist konkret festgelegt, wann Polizisten Gewalt einsetzen dürfen. «Das ist dann der Fall, wenn sie erforderlich ist, um polizeiliche Maßnahmen wie Festnahmen oder Platzverweise durchzusetzen», erklärte Singelnstein. Dabei ist immer der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. «Gewalt ist das letzte Mittel, zu dem die Polizei greifen darf.» Das bedeutet, dass mildere Mittel wie Gespräche oder Androhungen nicht reichen. Auf entsprechende Regelungen im Polizeiaufgabengesetz verweist auch das Ministerium.
Verfahren gegen Polizeibeamte sind besonders, da Kollegen gegen Kollegen ermitteln. In Bayern macht das seit 2013 die Abteilung «Interne Ermittlungen» beim Landeskriminalamt. «Damit konnten wir noch mehr Distanz zum täglichen Einsatzgeschehen erreichen und somit die Neutralität der Ermittlungen noch besser herausstellen», hieß es.
«Häufig handelt es sich zudem um Aussage-gegen-Aussage-Situationen mit schwieriger Beweislage», berichtete Singelnstein. In der Glaubwürdigkeitshierarchie der Justiz stehen Polizisten nach seinen Worten weit oben, da sie in Strafverfahren häufig als Zeugen auftreten. Mitunter habe man den Eindruck, so der Professor, die Staatsanwaltschaft suche vor allem nach Umständen, die Beamte entlasten, und weniger nach solchen, die sie belasten.
Polizeigewalt kann jedem widerfahren. «Sie kann in allen Einsatzsituationen und Gemeindegrößen vorkommen, aber in unterschiedlicher Weise», sagte Singelnstein. Für gesellschaftliche Gruppen wie Geflüchtete, Wohnungslose und Suchtkranke bestehe mutmaßlich eine höhere Wahrscheinlichkeit, betroffen zu sein, so die These des Forschers. Das gelte auch für «gesellschaftliche Gruppen mit einem etablierten Konfliktverhältnis zur Polizei». In diese Kategorie können zum Beispiel die Teilnehmer von Versammlungen, politische Aktivisten oder Fußball-Fans fallen.
Das weist der Ministeriumssprecher jedoch als «völligen Unfug» zurück. «Solche Thesen dienen unserer Auffassung nach insbesondere dazu, Stimmung gegen die Arbeit der Polizei zu machen, die Menschen zu verunsichern und im schlimmsten Fall Gewalt gegen Polizisten zu legitimieren.» Das zeigten auch die Statistiken etwa zu den eingestellten Verfahren. Die Kollegen vom Dezernat «Interne Ermittlungen» hätten im Jahr 2017 insgesamt 1006 Fälle bearbeitet. Bei 30 davon gab es einen Bezug zu Versammlungen/Demonstrationen, Sportveranstaltungen oder sonstigen Veranstaltungen. Es sei auch anhand dieser Zahl überhaupt nicht erkennbar, dass die von dem Kriminologen genannten Personengruppen besonders häufig von «polizeilichem Fehlverhalten» betroffen wären, erklärte der Ministeriumssprecher.